Das Seminar bietet einen Überblick über die Geschichte des Insel-Diskurses. Es untersucht die präkoloniale, koloniale und postkoloniale Modellierung von Inseln in Reiseberichten und in der Literatur. In der Tradition von Platon (Atlantis) und Thomas Morus (1516) erscheinen Inseln als Utopien. Bei dem französischen Entdecker Louis Antoine de Bougainville wird Tahiti zum Ort der sexuellen Gastfreundschaft. Georg Forster beschreibt Tahiti bei seiner Ankunft auf einem der Schiffe Cooks als einen „locus amoenus“ und als pazifische Stimmungslandschaft. Im „Atlas der abgelegenen Inseln“ von Judith Schalansky (2009) sind hingegen fünfzig Orte des Schreckens verzeichnet. Die Osterinsel ist ihr Beispiel für eine ökologische Katastrophe, Iwojima steht für ein kriegerisches Inferno. Das Atoll von Fangataufa ist ein Experimentierfeld, auf dem Frankreich die Wasserstoffbombe zündet. Die australische Norfolkinsel ist in diesem Atlas eine exemplarische Sträflingskolonie. Diese Thematik behandelt schon Franz Kafkas Erzählung “In der Strafkolonie” (1919). Schalanskys Text über die Insel “Robinsón Crusoe“ knüpft an das Erzählmuster der Robinsonade an, das sich von Daniel Defoe (1719) über William Golding („Lord of the Flies“, 1954) bis hin zu Lutz Seilers Roman „Kruso“ (2015) bewährt hat. Im Anschluss an Robert Louis Stevensons „Schatzinsel“ (1883) hat der Schweizer Autor Alex Capus in „Reisen im Licht der Sterne“ (2005) das Motiv der Schatzsuche ausgestaltet, das Schalanskys Atlas auf der „Kokos-Insel“ abhandelt. Der koloniale deutsche Traum vom “Platz an der Sonne” auf einer Pazifik-Insel ist Gegenstand von Christian Krachts Roman “Imperium” (2012) über den Aussteiger August Engelhardt. Doch setzten die Pazifik-Insulaner der deutschen Kolonialmacht auch Widerstand entgegen. 1911 schlug die deutsche Marine eine Rebellion auf der Insel Ponape nieder. In der japanischen Literatur wurde sie zum Thema eines Romans von Sugimura Mitsuko mit dem Titel “Regiman no hi” (1992). Dass ein deutscher Roman über den Aufstand, “Die Missionarin” von Sibylle Knauss (1997), verfilmt werden soll, zeugt von der Aktualität einer postkolonialen Aufarbeitung der imperialen Vergangenheit Deutschlands im Pazifik.
Als Einstieg in die Thematik erarbeiten die Studierenden ausgewählte Texte aus Schalanskys “Atlas der abgelegenen Inseln” (2009) und Auszüge aus Christian Krachts Skandal-Roman “Imperium” (2012). In Abhängigkeit von der Lesekompetenz der Teilnehmer entscheiden wir, welche Texte vertieft behandelt werden (Georg Forster, Franz Kafka …). Das Seminar bietet auch die Gelegenheit, eigene Arbeitsprojekte der Teilnehmer zu diskutieren.
Die Studierenden analysieren in diesem Seminar verschiedene Motive und Erzählmuster des Diskurses über Inseln. Sie vergleichen historische Reisebeschreibungen mit literarischen Texten. Sie diskutieren die Frage nach den Besonderheiten insularer Räume, was Inselwelten und Archipele so faszinierend und umstritten macht.
Referat (20%), Hausarbeit (erste Fassung) (30%), Hausarbeit (zweite Fassung) (50%). Hausarbeit 2 ist die nach meinen Korrekturvorgaben überarbeitete Version von Hausarbeit 1
Judith Schalansky: Taschenatlas der abgelegenen Inseln. Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde. Frankfurt a. M.: Fischer (mare) 2013. ISBN: 978-3-596-19012-6
• Brittnacher, Hans Richard: Die Insel. Idylle und Desaster. Einleitung zu: Hans Richard Brittnacher (Hg.): Inseln. München: edition text & kritik 2017, S. 7-17.
• Brunner, Horst: Die poetische Insel. Stuttgart: Metzler 1967.
• Capus, Alex: Reisen im Licht der Sterne. Eine Vermutung. München: Knaus 2005.
• Dautel, Katrin / Schödel, Kathrin (Hg.): Insularity. Representations and Constructions of Small Worlds. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017.
• Deleuze, Gilles: Desert Islands (1990). In: Gilles Deleuze: Desert Islands and Other Texts. New York: Semiotext(e) 2004, S. 9–14.
• Fischer, Steven Roger: A History of the Pacific Islands. New York: Palgrave 2002.
• Forster, Georg: Reise um die Welt. Hg. von Gerhard Steiner, Frankfurt / M: Insel 1983.
• Glaser, Horst-Albert: Utopische Inseln. Beiträge zu ihrer Geschichte und Theorie. Bern: Lang 1996.
• Görbert, Johannes / Kumekawa, Mario / Schwarz, Thomas (ed.): Pazifikismus. Poetiken des Stillen Ozeans. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017.
• Graziadei, Daniel: Nissopoiesis. Wie Robinsone ihre Insel erzählen. In: Jörg Dünne / Andreas Mahler (Hg.): Handbuch Literatur und Raum. Berlin: de Gruyter 2015, Kapitel 38.
• Hau‘ofa, Epeli: Our Sea of Islands (1993). In: Epeli Hau‘ofa: We are the Ocean. Selected Works. Honolulu: University of Hawai‘i Press 2008, S. 27-40.
• Knauss, Sibylle: Die Missionarin. Hamburg: Hoffmann und Campe 1997.
• Kracht, Christian: Imperium. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2012.
• Morus, Thomas: Utopia (1516). Latein / Deutsch, übersetzt von Gerhard Ritter. Stuttgart: Reclam 2012.
• Moser, Christian: Archipele der Erinnerung. Die Insel als Topos der Kulturisation. Hartmut Böhme (Hg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. DFG-Symposion 2004. Stuttgart: Metzler, 2005, S. 408–432.
• Seiler, Lutz: Kruso. Berlin: Suhrkamp 2014.
• Wilkens, Anna E. / Ramponi, Patrick / Wendt, Helge (Hg.): Inseln und Archipele. Kulturelle Figuren des Insularen zwischen Isolation und Entgrenzung. Bielefeld: transcript 2011.
Das Seminar eignet sich für Studierende mit guten Deutsch-Kenntnissen und Interesse an kulturwissenschaftlichen Fragestellungen.